Bordies ANA
  Eine Geschichte
 

 

ES

 

 

Eine Frau sitzt auf einem Stuhl, an ihrem Schreibtisch. Sie hört laut Musik, blättert, wie nebenbei, in einem Buch. Ihre Augen wandern über die Seiten, über die Schrift, die Buchstaben. Mühsam reiht sie die Buchstaben aneinander, bildet daraus Worte, kann aber deren Sinn nicht erfassen.

Ihre Gedanken sind bei etwas völlig Anderem, etwas, gegen das sie kämpft, sich aber nicht zu wehren vermag. ES packt sie, schüttelt sie und lässt sie nicht mehr los. Bis sie es schafft, ES zu vertreiben, zu verjagen. Mit allen Sinnen kämpft die Frau dagegen an. Sie hört ganz laut Musik, bis ihr das Trommelfell fast zu platzen scheint, sieht in grelles Licht, bis ihre müden Augen schmerzen und nur noch bunte, flimmernde Punkte erkennen können. Sie kneift sich, kratzt sich, beißt sich. Schüttet Farbe auf ein Blatt Papier und verschmiert sie mit beiden Händen. Lässt daraus ein Bild entstehen. Auch das Chillipulver, welches sich die Frau in ihrer Verzweiflung auf die Zunge streut, bringt keine Hilfe. Sie tobt, wütet, schreit, um ES zu vertreiben. Doch- ES wird immer stärker. Nie hätte die Frau gedacht, dass ES noch mal so stark werden könnte, dass ES völlig die Macht über sie gewinnt. War sie doch immer der Meinung gewesen, ES besiegt zu haben, damals, vor mehr als zehn Jahren, als ES das letzte Mal in ihr Leben trat. Und doch- ES lebt, ES hat nur ganz tief in ihr geschlummert- um nun, nach so langer Zeit, noch viel kraftvoller über sie herzufallen, aufs Neue zuzuschlagen.

Der Schmerz, den ES auslöst, sitzt tief, so tief. Sie weiß genau, ES wird sie nicht mehr loslassen- bis sie es verjagt. Verjagt, vertreibt, mit einer Rasierklinge. Immer wieder versucht sie, ES unter Kontrolle zu bringen, schreibt, malt, rennt, frisst, aber, ES ist einfach zu stark. Je tiefer der Schmerz sie trifft, je mehr ES sie beutelt, um so tiefer muss die Klinge gehen, die ES als Einzige vertreiben kann, zumindest für eine kurze Zeit. Nur eine kleine Weile noch, reicht ihre Kraft, um Widerstand leisten zu können, dann hat ES die Frau voll im Griff. ES beutelt sie, bis sie nur noch ES spürt. Sie will sich wehren, doch der Ring, den ES um ihren Brustkorb legt, der Ring, der ihr die Luft zum Atmen raubt, wird immer enger. Sie schnappt nach Luft, hat Angst zu ersticken. Zuerst nur ein paar ganz kleine, kaum sichtbare Schnitte, in der Hoffnung auf Linderung. Doch dann, je weniger Luft sie bekommt, je fester ES sie packt, umso tiefer spaltet die Klinge ihre Haut. Doch, ES ist immer noch präsent. Sie wehrt sich, sie weint, rote Tränen rinnen über ihren Arm, tropfen auf die Hose, auf den Boden.

ES ist verletzt, aber- ES nimmt ihr immer noch den Atem. Nur ein Ausweg- um Atmen zu können, greift die Frau erneut zur Klinge. Der ganze Arm ist voller Blut. Auf dem Boden bilden sich Lachen aus roten Tränen und aus den Tränen der Frau. ES tut so weh- nicht die Schnitte, die merkt die Frau gar nicht- sondern ES. Das Blut läuft immer mehr, ES ist verwundet. Vielleicht. Vielleicht hört ES ja ganz auf zu existieren, sie zu packen und zu quälen, wenn gar kein Blut mehr in ihrem Körper zirkuliert? Sie lässt die roten Tränen, Tränen des ES, rinnen. Wozu die klaffenden Schnitte verbinden, dem ES noch helfen, sie wieder packen zu können?

Die Frau sieht ihren Arm an, sieht schlimm aus, aber- sie kann es kaum glauben- ES ist weg. So schnell, wie ES gekommen ist, ist ES auch wieder weg.

Das Licht im Flur geht an, die Frau schreckt hoch. Ein junger, hübscher Tennie kommt herein. Es ist ihr Sohn. Schnell zieht sie die Ärmel ihrer schwarzen Strickjacke über die Verheerung an ihren Armen, stellt die Füße so in die Blutlache, dass der Junge nicht sehen kann, was ES schon wieder angerichtet hat. Glücklicher Weise schaut der Junge nur kurz um die Ecke, fragend, ob alles in Ordnung ist. Na klar, alles Roger, alles im Lot, alles….

Hoffend, dass dieses bösartige, abartige ES ihren Sohn verschont, alle ihre Kinder ja um Gottes willen verschont, verabschiedet sie sich von dem Jungen.

Da, schon wieder. Die Frau fühlt, dass ES sich schon wieder nähert. Sie weint, hat keine Kraft mehr. Noch sind ihre Tränen klar, klar, wie frisches Quellwasser. Trotzdem salzig, auf der Haut brennend, bitter.

Wann hört ES endlich auf??? Wenn sie selber aufhört zu existieren? Wenn sie das nur wüsste. Vielleicht, und der Gedanke macht ihr noch mehr Angst, ist ES ja auch dann noch da? Existent in einer anderen Form des Daseins? Wenn nur diese vielen Fragen nicht wären….Dann wüsste sie schon, wie sie dem Allen ein Ende setzen könnte, wie sie ES ein für alle Mal loswerden könnte.

Rote Tränen beginnen wieder, über Arme und Beine auf dem Boden zusammenzufliesen. ES ist wieder da. Blutend, verwundet, aber stärker als je zuvor nimmt es ihr die Luft. Tief sind die Schnitte, als die Klinge nun wieder und wieder in ihr hässliches fettes Fleisch gleitet. Tiefer als zuvor. Sie sieht das Blut aus dem Fettgewebe quellen. Als die roten Tränen nur noch so hervorsprudeln, ist ES plötzlich weg. Aber auch die Frau. Sie merkt noch, wie ihr die Klinge aus der Hand fällt, dann fällt sie selber. Tief, immer tiefer, in ein Loch aus schwarzer Watte, die sie sanft umhüllt.

Sie erwacht, wie aus dem Nichts, liegt am Boden und fragt sich, warum sie eigentlich immer wieder erwachen muss. Um sie herum ist alles nass, alles voll Blut. Tränen, die ES geweint hat, sie hat nicht gewusst, dass ES so weinen kann, dass ES so viele rote Tränen hat, Tränen, kristallklar, die sie geweint hat. Eine Grenze zwischen beiden gibt es nicht. Ein See nur, in dem sie liegt, als sie erwacht. Nur Einer. Wer hat eigentlich welche geweint? Wer die Roten, wer die Klaren? Hat ES überhaupt geweint? Ist ES überhaupt angreifbar? Hat ES endlich aufgegeben? Nein, sie glaubt es nicht. So schnell gibt ES sicherlich nicht auf, schlummert in ihr. ES ist allgegenwärtig. Sie sieht ihren Lebenssaft, auf dem Boden, überall. Sie weiß, sie hat wieder einmal versagt, war zu schwach, um sich zu wehren.

„Schwächling, Versager, Feigling“, raunt ES ihr zu. Sie hört ES höhnisch lachen. „Lach du nur, erzähl ruhig“, denkt die Frau bei sich, “ ich weiß ja, du hast recht. Ich bin ein Versager, ein Schwächling, bin es immer gewesen, werde es immer sein.“ Ein Blick in den Spiegel genügt, um zu wissen, ES hat recht. Eine hässliche fette Qualle ist das, was sie sieht. Versagt auf ganzer Linie. Fett, weil sie versagt hat beim Hungern, länger als acht Tage hat sie es nie ausgehalten. Nicht konsequent genug, um dass, was sie in ihren Anfällen von Fresssucht in sich hineingestopft hat, sofort wieder von sich zu geben. Hässlich, weil sie vom jahrelangen Erbrechen und dem daraus  resultierenden Vitaminmangel viele Zähne verlor.

Aber- im Moment kann sie nichts erschüttern. Sie verspürt nichts- keine Liebe, keinen Hass, nicht einmal mehr Hass auf sich selber, keine Trauer. Und wieder einmal mehr weiß sie, dass Es das Beste ist, was sie hat.

Schmerz, ein Gefühl. Es soll wunderbar sein, Gefühle zu empfinden. Dieser Schmerz, den ES auslöst, ist das Einzige, was ihr an Gefühlen geblieben ist, das Einzige, was ihr zeigt, dass sie doch noch etwas empfindet. Schmerz, die Erlösung für ihre kranke, kaputtgespielte Seele, die alle anderen Gefühle vergessen hat, um sich zu schützen. Wie für die Anderen, die Normalen, ein Lottogewinn, so empfindet sie den Schmerz, ist glücklich darüber. Jetzt…

Aber, was ist an den anderen Tagen, an denen, wo ES sie packt, sie schüttelt, aber nur ein wenig, nicht fest genug?

Eine Maske, ein Lächeln, für die Anderen, während ihr Herz, ihre Seele weint, fast überläuft vor Tränen. Es gibt Tage in ihrem Leben, da wünscht sie sich nichts mehr, als mit irgendjemandem reden zu können. Aber ist dann jemand da, fehlen ihr die Worte. Sie ist nicht in der Lage, ES zu erklären. Und- wer könnte sie schon verstehen, versteht sie ES doch selber nicht. Oder? Haben ES die Anderen etwa auch? ES, was auch sie anfällt, wie diese Frau, die nun wieder am Schreibtisch sitzt, die Füße in einer Pfütze aus ihrem eigenen Ich?

Sie wünscht sich so sehr, dass Es verschwindet, sie nie wieder beutelt, quält, doch, von Mal zu Mal packt ES sie fester. Jedes Mal wieder wehrt sie sich dagegen solange ihre Kraft reicht, so lange sie kann. Meist schafft sie es erst in allerletzter Sekunde, bevor ES, mit all seinem Schmerz, ihr die Luft zum Atmen nimmt, ES zu vertreiben.

Doch immer wieder stellt sich ihr die Frage, warum überhaupt Einhalt gebieten? Wofür noch? Warum überhaupt das Alles? Sie verlangt doch geradezu danach, vom Es gepackt zu werden. Dann hat sie eine Rechtfertigung. Vor wem? Vor sich selber? Vor den Anderen?

ES ist schlimm, böse, hinterhältig, packend, hässlich, aufregend, quälend, fesselnd und schmerzhaft. Aber- wenn ES sie richtig anfällt, dann, und nur dann, kann sie sich spüren, kann sie fühlen, dass sie ist.

ES quält die Frau, deren rote und kristallklare Tränen immer noch aus mehreren Stellen ihres fetten, ekelhaften hässlichen Körpers rinnen. ES quält, auf eine bösartige Weise, aber ES lässt sie leben.

Aber ist das denn Leben?

Sie ist verzweifelt, bittet ES auf Knien, dass ES sie sie nie wieder so anfällt, grausam, aus dem Hinterhalt, aus dem Nichts, bettelt, dass sie überlebt, dass ES endlich aufhört, diese, ihre roten Tränen zu weinen. Doch im selben Augenblick will sie nicht, dass ES aufhört zu bluten, schon allein, damit ES sie nicht mehr packen kann. Sie bittet, fleht, bettelt ES regelrecht an, ihren größten Feind, ihren besten Freund, sie doch endlich loszulassen, bettelt weinend, auf Knien.

Wann ist ES endlich vorbei, gibt es denn überhaupt ein Ende? Hoffentlich ja, bald,- oder vielleicht doch eher hoffentlich nicht, nie?

Und schon wieder packt es sie, am Ende ihrer Kräfte, kann sie sich nicht mehr wehren und will auch gar nicht mehr, denn auch das Wollen kostet Kraft. Kraft, die sie in ihrem ständigen Kampf mit dem ES verbraucht hat. Sie will nur noch, dass es aufhört. Jetzt dreht sich alles nur noch darum, wer schneller ist, wer stärker ist. ES oder sie. Wieder einmal schafft es die Frau, ES zu besiegen.

Doch wie lange noch? Wie lange wird es noch dauern, bis ES schneller und stärker ist, als sie? Bis ES sich nicht mehr bezwingen lässt und sie sich ihm völlig hilflos ergibt? Wie lange noch? ES wird immer stärker, wirft sie um, benutzt sie als Spielball. Lange kann sie bestimmt nicht mehr standhalten.

Denn ES naht schon wieder…

 

Sieben Tage später. Die Frau sitzt wieder einmal auf einem Stuhl an einem Tisch. Die Wände des Zimmers sind in schlichtem weiß gehalten. Am Fenster des Zimmers steht ein Bett. Es ist ein Krankenhausbett in einem Krankenhauszimmer. Sechs Tage lang hat sie es geschafft, allein dem ES entgegenzutreten. Es waren harte, qualvolle Tage für sie, dann war ihre letzte Kraft verbraucht. Sie schämte sich, als sie um Hilfe bat. Hatte sie doch wieder einmal versagt. Doch sie wusste, würde sie weiter allein versuchen, ES unter Kontrolle zu bekommen, würde ES irgendwann endgültig die Oberhand über sie gewinnen. Und dieses Mal richtig. ES würde sie nicht mehr aus seinen Klauen lassen. ES würde sie so lange quälen und schütteln bis sie dem Ganzen mit einer ihrer schönen, gefährlich glänzenden, extrem scharfen, neuen Rasierklingen ein Ende setzen würde.

Denn- hatte sie kein Blut mehr, könnte ES nicht mehr weinen. Und ohne Tränen könnte ES nicht existieren.

Das ES ist die Frau… und die Frau? Die bin ich. Noch…

Denn- ich bin bereit, alle Kräfte zu mobilisieren, jegliche angebotene Hilfe in Anspruch zu nehmen, um gegen ES anzutreten.

ES ist jetzt greifbar, denn ES hat einen Namen: Emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline- Typ

 
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